Pilgern - ein Dialog mit der Schöpfung

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Hunderttausende Menschen pilgern jährlich nach Santiago de Compostela. In Europa schießen neue Pilgerwege wie Pilze aus dem Boden. Die High Tec Ausrüstung hat Pilgerstab, Kürbisflasche, Mantel und Hut abgelöst. War das Pilgern im Mittelalter durch das Ziel, als das Symbol auf das Jenseits motiviert, ist es heute durch den Weg, als das Symbol für das Dieseits abgelöst worden.

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Wallfahrt!
Altes, mächtiges Bild für unser Dasein auf Erden.
Gleichnis insbesondere für den Christenmenschen,
der Pilger ist;
das heißt ein verbanntes Kind Evas,
stolpernd über die Fluren und Äcker der Fremde.
Carl Amery, Die Wallfahrer

 

 

"Schon Thomas von Aquin hat den Pilgerweg als Symbol für den Lebensweg und den Menschen als homo viator - als den Wanderer - bezeichnet. In Dantes „Göttlicher Komödie“ ist das Unterwegssein das Ziel. Und das wohl bekannteste Zitat für die Pilger heute ist jenes von Antonio Machado: 'Caminando se hace el camino - im Gehen kommt der Weg zustand'." (Karl Mittlinger Religionstheologe und Pilgerbegleiter- Lehrgangsreferent)

Ankommen

Als ich mich in das Pilgern verliebte

2007 marschierte ich allein den Jakobsweg in Spanien. Eines gleich vorweg: Ich hatte weder eine Krise noch suchte ich nach spiritueller Erleuchtung. Mir wurde kurz davor eine Abenteuerreise in die Mongolei abgesagt und so entschloss ich mich spontan, aufzubrechen, um von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela zu gehen. Nach einer spektakulären Überquerung der Pyrenäen, allein, bei Regen und Nebel, mit einem viel zu schweren Rucksack, kam ich verändert - ich wage zu behaupten - geläutert in Roncevalles an.

Die restlichen 700 Kilometer waren fast ein Spaziergang dagegen. Außerdem wurde mir die nicht ersehnte Erleuchtung letztendlich doch noch, in der Gestalt meines 15 kg schweren Rucksackes, zuteil. Nachdem ich 5 kg in der ersten Herberge losgeworden war, machte ich mir den Rest des Weges über das Thema Pilgern - als Metapher für den Lebensweg - Gedanken. Zeit dafür hatte ich in rauen Mengen.

Das Wort Pilger kommt von dem lateinischen Wort „Peregrinus“ und bedeutet „der Fremde“. Im biblischen Kontext wird Abraham als der erste Pilger bezeichnet und das Christentum versteht sich als Pilgerreligion. „Verlasse Eltern, Mann, Frau und Acker und folge mir nach“. Sich als Pilger „vom Acker machen“ war im Mittelalter eine propere Gelegenheit, sich vor Verpflichtungen zu drücken und sogar dem Gefängnis zu entgehen. Reiche Adelige bezahlten dafür, dass jemand anderes für sie nach Santiago pilgerte. Eine Pilgerschaft war im Mittelalter ein gefährliches Unterfangen und viele überlebten die Reise nicht. Wegelagerer, Krankheiten und Seuchen erwarteten die Pilger auf ihrem Weg.

Das "Sich vom Acker machen" in den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen wird heute zunehmend zum Massenphänomen.

 

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Was war die ursprüngliche Intention der Pilger?

Eine Pilgerschaft hatte immer ein Heiligtum als Ziel. Damit ist nicht eine beliebige Kirche gemeint. Kirchen wurden dort gebaut, wo sie gebraucht wurden, Heiligtümer werden nicht gebaut - sie entstehen bzw. sie offenbaren sich. In den Ursprungslegenden der Wallfahrtsorte wird von einer Hierophanie berichtet. Ein göttliches Wesen zeigte sich den Menschen an diesem Ort. Ein Kultbild, eine heilende Quelle oder der Ort selbst sind mit einer heiligen Person verbunden. Ebenso sind Reliquien von Heiligen Ziel von Pilgerfahrten. Viele Marienkirchen wurden über alte Isis-Heiligtümer gebaut. Madonna mit dem Kind, nach dem Vorbild von Isis mit Osiris auf dem Schoß. (nach Mittlinger)

Die Intention heute?

Die Klimaveränderungen und die damit einhergehende Sensibilisierung der Menschen für Umweltthemen, machen das Reisen zu Fuß en vogue. Ich verwende bewusst dieses moderne Wort, weil Pilgern tatsächlich zum Trend und damit ein interessanter Wirtschaftsfaktor geworden ist. Pilgerwege und Pilgerforen im Internet schießen wie Pilze aus dem Boden und es drängt sich mir die kritische Frage auf: “Welche Motivation steht dahinter?“

In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Unterschied zwischen Pilgern und Wandern hinweisen. Das Wandern ist häufig von gesundheitlichen und sportlichen Motiven geprägt, während das Pilgern eine innere Haltung widerspiegeln sollte. Diese Haltung ist von Verzicht, Reduktion und Achtsamkeit gesteuert. Pilgern ist Beten mit den Füßen. Reinhold Messner sagte 1997, dass er im Gehen bete, nicht durch mündliche Gebete. Gehen heißt, im Dialog mit der Schöpfung zu sein.

Ich beobachte auf Pilgerwegen allerdings zunehmend, dass Schritt- Höhen- und Kilometermesser sowie die Musik über den Ohrenstöpsel zur Grundausstattung und zum Maß geworden sind. Selbst die Sprache spiegelt den Konsumzwang unserer Zeit wider: „Den Weg habe ich gemacht, den mache ich als nächstes“. Vor allem schockiert es mich, was ich an Rastplätzen und an Wegerändern finde: Abfälle wie Plastikflaschen, Zigarettenstummeln, Taschentücher und Reinigungstücher als Hygieneabfall.

„Wo ist der Dialog mit der Schöpfung, wo die innere Haltung?“  frage ich mich dann.

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Zurück zum ursprünglichen Sinn des Pilgerns und was dieser für mich bedeutet:

Das Pilgern kann uns lehren, sich mit dem Ziel, dem Weg und dem Rucksack auseinanderzusetzen. Diese DREI symbolisieren unser Leben. Wenn wir ohne Ziel im Leben unterwegs sind, verlieren wir den Sinn, was eine der Ursachen für Depressionen sein kann. Schon Viktor Frankl erkannte, dass das Wesentliche im Leben das, „Wofür lebe ich“, ist.

Der Weg als Grundsituation im Leben, mit allen Veränderungen, Übergängen, Umbrüchen und Zäsuren, ist das Ursymbol für den Lebensweg. Und nicht zuletzt der Rucksack als Symbol für den „Lebensrucksack“, der im Laufe des Lebens immer schwerer wird.Eine Pilgerwanderung ist eine gute Gelegenheit, diesen „Lebensrucksack“ zu sichten, zu sortieren, zu entrümpeln und neu zu packen. Das Gewicht des Rucksackes erinnert an das Gewicht unseres „Lebensrucksackes“: Alles, was man im Laufe seines bisherigen Lebens hineingepackt hat an Verpflichtungen und Verantwortungen, Rollen, Glaubenssätze, Denkmuster, Überzeugungen und Ängste drücken uns nieder.  Im Gehen kommt man dann irgendwann auf den Grund des Rucksackes und findet verborgene Schätze. Jene, die geholfen haben, zu überleben, vieles durchzustehen und dort anzukommen, wo man gerade ist. Unsere Talente, Begabungen, Stärken und Fähigkeiten.

Verzicht ist der Pfad zur Freiheit

Das ist aus meiner Sicht der Sinn des Pilgerns. Den inneren Weg zu gehen, die Verbindung zu finden zwischen sich und der Schöpfung. Zu erkennen, dass man ein "Tropfen im Meer und das Meer im Tropfen" ist. Die großartige Erfahrung zu machen, dass man Fülle in der Reduktion und Freiheit im Verzicht finden kann.

Die Erkenntnis, was man alles NICHT braucht, ist der Pfad zu Leichtigkeit und wahrer Freiheit.

 

 

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Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.

Ingeborg B. Hofbauer

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