100 Tage in Istrien

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„Wo soll ich beginnen?“ Über Istrien zu schreiben, scheiterte jedes Mal bei dieser Frage. In meiner Bibliothek stehen mindestens zwei Laufmeter an Reiseführern, Genussführern und Literatur über Istrien. Viele Jahre begleitete ich Wandergruppen in Istrien und war auch privat auf dieser kleinen, dreieckförmigen Halbinsel am obersten Zipfel der Adria. Nun ja, so picke ich aus 100 Tagen unterwegs in Istrien einige Geschichten heraus.

 

An die erste Begegnung mit Istrien erinnere ich mich mit einem Schaudern. Es war in den Neunzigerjahren, als ich einen FKK-Urlaub in Funtana verbrachte. Wiener Freunde hatten uns eingeladen mitzukommen und mich gruselt es noch heute, wenn ich an so manchen ungustiösen Anblick denke. Bade-Massentourismus an den Küsten gab es bereits in Jugoslawien unter Tito. Der Rad- bzw. Wandertourismus im Inneren von Istrien entwickelte sich zunehmend nach den Balkankriegen.

Die komplexe Geschichte Istriens spiegelt im Kleinen die große Geschichte Europas wider. Das macht dieses Dreieck so spannend, weil Zeugnisse jener Kulturen, die dieses Land einmal beherrschten, nach wie vor zu sehen sind. Allen voran die Venezianer und die Habsburger, die sich Istrien über Jahrhunderte teilten, bevor die Habsburger die Alleinherrschaft ab 1813 bis 1918 übernahmen. Die Grenze (venezianisch-habsburgisch) verlief von Norden nach Süden, ziemlich exakt mitten durch das Land. Alte Grenzsteine, die den Verlauf der Grenze markierten, sind im Archäologischen Museum von Pula dokumentiert. Leider wurden viele dieser wertvollen Zeugen geschliffen, gestohlen oder als Baumaterial missbraucht.

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Den Namen „Istrien“ führt man auf ein Seefahrervolk, den „Histrern“, zurück. Diese siedelten sich an den Küsten an.

Spuren von menschlicher Besiedlung kann man 20.000 Jahre zurückdatieren. Bei einer Wanderung durfte ich die Höhlenzeichnungen in der Romuald Höhle am Limsky-Kanal bewundern.

Heute spricht man in Istrien je nach Bevölkerungsanteil kroatisch ca. 88 %, slowenisch. ca. 11 % und italienisch ca. 1 %. Eine alte Sprache, das Istro-rumänisch wird vereinzelt noch von den älteren Bewohner: innen der Ćićarija gesprochen. Sie werden auch die Ćići genannt und waren istro-rumänische Einwanderer, die sich im Hinterland des nördlich-östlichen Teiles niedergelassen hatten. Leider ist diese Sprache vom Aussterben bedroht. 

Das einfache Essen der einst bitterarmen Landbevölkerung ist heute der kulinarische Hintergrund eines Genusslandes. Regionalität und Saisonalität stehen dabei im Vordergrund. Dabei handelt es sich u.a. um handgemachte Nudeln, Fuži genannt, gereicht mit wildem Spargel oder Trüffel, dem würzigen Prŝut, Käse, erzeugt aus der Milch von Schafen und Kühen oder aus beiden gemischt. Dazu das eine und andere Glas Malvasier, Refosko oder einem edlen Teran. Beinahe jedes kleine Dorf auf den Hügeln von Istrien hat eine Konoba mit diesen Köstlichkeiten zu bieten.

 

In den Wäldern rund um Motovun regiert seine Hoheit der weiße und der schwarze Trüffel.

Für die Suche braucht man eine Genehmigung und die ist schwer zu bekommen. Bei einer Trüffelsuche dabeizusein ist etwas besonderes. Die Hunde werden von Klein auf dafür ausgebildet. In Wahrheit macht man sie nach Trüffel süchtig, indem man ihnen schon als Baby Trüffelöl um die Nase schmiert. Trüffelschweine sind nicht so gut geeignet, antwortet man mir auf meine Frage. Sie haben zwar eine gute Nase aber fressen den Trüffel auf, bevor man ihn zu fassen bekommt und außerdem, so schmunzelt der Trüffeljäger und zeigt auf sein Auto:"Wie bekommt man so ein riesen Schwein in einen so kleinen Renault?"

Der istrische Trüffel reiht sich inzwischen, neben dem piemontesischen, auf internationalen Prämierungen in den Spitzenrängen ein.

Nicht nur der Trüffel ist eine Spezialität. In Hum darf man sich im einzigen Restaurant der „Kleinsten Stadt der Welt“, ein Gulasch vom Boŝkarin Rind nicht entgehen lassen. Fische und Meeresfrüchte sind eher an den Küsten auf der Karte. Mein Tipp ist ein Teller Miesmuscheln in einem der Restaurants am Limsky-Kanal. Frisch aus den Muschelgärten im glasklaren Wasser auf dem Teller.

Nach diesen kulinarischen Exzessen brauche ich einen Biska.

Der Hochprozentige, dem die Istrioten echte Heilkraft nachsagen. Dafür besuche ich die Destilleria Aura in Buzet. Biska ist der lokale Name für die Mistel (Lateinisch Viscum album). Traditionell wird Biska aus einem Apfeldestillat unter Einsatz der richtigen Menge an Mistelblätter, die hoch in den Baumwipfeln geerntet werden, hergestellt. Nach einem uralten keltischen Rezept, wie man mir versichert.   

Mein Reiseleiterkollege Adriano aus Poreč erzählte mir lachend, dass sein Großvater immer, wenn ein Problem auftauchte sagte: „Wir Istrioten haben insgesamt fünf Fahnen überlebt.“ Die Italienische, die Französische, die Österreichische, die Deutsche und nun die Kroatische. Wir werden auch das überleben“.

Wahrlich ein Volk mit einer reichen Geschichte, das viel durchlitten hat und dadurch tolerant und weltoffen geworden ist.

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Die Eierfrauen von Istrien

Auf versteckten Pfaden der Ćićarija, ein 45 km langer und 10 bis 15 km breiter Teil des Karstgebiets im Dinarischen Gebirge, zwischen Koper und Kastav, wandere ich auf den Spuren der Schaurinken, auch Eierfrauen genannt. Diese mutigen Frauen, die in bitteren Zeiten nach dem ersten Weltkrieg, mit Körben wochenlang unterwegs waren, um die Eier in den Dörfern einzusammeln und sie auf den Märkten von Triest oder Koper verkauften. Mit dem Erlös erwarben sie Dinge des täglichen Bedarfs, um diese wiederum, in den Dörfern zu verkaufen. Der Gewinn dieses Handels ernährte ihre Familien. Ihre, vom Krieg teilweise verkrüppelten und traumatisierten Männer versorgten zu Hause die Kinder und den Hof. Großartig erzählt im Roman von Marjan Tomŝič „Die Frauen der Schaurinia“ (Mohorjeva Verlag). Vom selben Autor/Verlag gibt es wunderbare Sammlungen von Märchen und Geschichten aus Istrien. Die böse Hexe Barbura Stafura soll noch heute in den Wäldern um Motovun ihr Unwesen treiben. Doch der Riese Buskin ist rettend zur Seite, wenn man ihr begegnet.

Haben Sie gewusst?

Dass der österreichische Erfinder der Schiffsschraube, Josef Ressel von Beruf Förster war und als K&K Beamter in Istrien für die Aufforstung der Wälder sorgte? Der Platz vor der Kirche in Motovun ist nach ihm benannt. 

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Kroatisches Kulturgut an unscheinbaren Orten

Im kleinen Städtchen Roč, von der Straße aus gesehen eher unspektakulär, fährt so mancher vorbei, jedoch ist dieser Ort auf jeden Fall einen Besuch wert. Hier befand sich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert der Schwerpunkt der kroatischen Literatur. Ein aufmerksamer Rundgang lässt die eine oder andere Besonderheit entdecken und endet bei einem riesigen Baum am Ortsende. Kaum zu glauben, aber in diesem winzigen Nest verlor ich einen Mann aus meiner Reisegruppe. Wir alle suchten den Ort ab, bis wir ihn zu guter Letzt in einer Schmiedewerkstatt, wo er staunend und die Zeit vergessend, dem Schmied bei seiner Arbeit zuschaute, entdeckten. In der Antoniuskirche aus dem 12. Jahrhundert befinden sich drei Votivkreuze, die das glagolitische Abcedarium beinhalten. Das Kirchlein Sv. Roč aus dem 14. Jahrhundert mit seinen, Fresken ist das bedeutendste Bauwerk von Roč. Den Schlüssel zu diesen beiden Kirchen bekommt man, wenn man an der Haustüre Nummer 24 klopft. Nach der Besichtigung geht es mit dem Rad oder mit dem Auto in das ca. 8 Kilometer entfernte Hum. Entlang der "Allee der Glagoliter". Diese Steinmonumente stellen die Buchstaben des glagolitischen Alphabets, der ersten Schrift Kroatiens, dar. In den Souvenierläden von Hum sind kleine Nachbildungen als Anhänger zu kaufen und selbstverständlich erstehe ich einen Anhänger mit dem Anfangsbuchstaben meines Vornamen.

Memento mori

In der Nähe von Pazin, zu Deutsch Mitterbach, und im Herzen Istriens gelegen, befindet sich Beram, wo sich zwei Kilometer entfernt im Wald die Friedhofskirche „Maria im Fels`“ befindet. Für Interessierte ein weiteres Juwel, denn in ihrem Inneren befindet sich eine Darstellung des berühmten Totentanzes und weitere beeindruckenden Fresken. In Beram sollte man sich jedoch erkundigen, wann man die Kirche besichtigen kann.  

Markuslöwe

Das geschlossene Buch

Am stärksten prägten wohl Kakanien* und die Venezianer das kleine Istrien. Strategisch war es über die Häfen Triest und Pula für das K&K* Habsburgerreich von großer Bedeutung. Begegnet man dem Markuslöwen mit geschlossenem Buch, wie beim Eingang in die Stadt Motovun, weiß man, dass es hier unruhige Zeiten gab. Hier verlief die Grenze zwischen Habsburgerreich und jener der Venezianer. Das geschlossene Buch des venezianischen Markuslöwen zeugt davon, dass hier oft Unfriede herrschte. Ganz selten sieht man eine geschlossene Darstellung des Markusbuches.

 

Das offene Buch beinhaltet die Worte:“Pax tibi Marce, evangelista meus, hic requiescat corpus tuum“. „Friede sei mit dir Markus, meinem Evangelisten, hier möge dein Körper ausruhen.“  

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Und über allem wacht Mutter Ućka

Seit 1. Juli 2013 gehört Kroatien zur EU und der Aufschwung ist überall zu sehen. Im Landesinneren von Istrien hat man aus den Nachteilen des Massentourismus gelernt und setzt auf sanften Tourismus. Wandern, Radfahren, wie auch die regional saisonale Kulinarik. Das Boŝkarin Rind wird wieder gezüchtet, es war schon beinahe ausgestorben, doch einem Brüderpaar ist es gelungen, über die Kulinarik dieses Rind wieder für die Zucht attraktiv zu machen. Es klingt paradox, aber hier sichert der Fleischgenuss das Überleben einer Art.

An einem prachtvollen Tag breche ich mit meiner Wandergruppe vom Poklonpass zum Gipfel des Vojak auf. Der mit 1401 Meter höchste Gipfel des Ućka Gebirges, ist der höchste Berg von Istrien. Bei schönem Wetter ist die Aussicht über die Insel bis zum Meer atemberaubend.

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Der Weg des Friedens und der Freundschaft

Als Beweis für ein gelungenes Friedensprojekt entstand die Parenzana. Jene Schmalspurbahn ab Triest, über das Landesinnere Istriens, bis nach Poreč. Der multinationale Radwanderweg verläuft über eine Strecke von ca. 110 Kilometern und verbindet Slowenien, Italien und Kroatien. Auf einigen Abschnitten, darunter jenem von Grožnjan bis Zavrŝje, wandere ich durch Olivenhaine und Weingärten. Der Weg ist sehr schottrig und für Radfahrer nicht einfach zu befahren. Eine Taschenlampe für die stockfinsteren Tunnels ist ebenso sehr zu empfehlen. Die beiden malerischen Orte waren einst von Italienern besiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel Istrien an Jugoslawien und hatte eine Auswanderungswelle, der von Italienern besiedelten Dörfern, zur Folge. Grožnjan und Zavrŝje wurden verlassen und zu Geisterstädten. Das hoch über dem Mirnatal gelegene Grožnjan, wurde Mitte der Sechzigerjahre von Künstler: innen aus der ganzen Welt entdeckt und langsam wieder besiedelt. Im Sommer ist hier Hochsaison und voll mit Touristen. Zavrŝje (italienisch: Piemonte) zeigt sich mir malerisch auf einem Hügel. Es fristete bis vor wenigen Jahren das Dasein einer Geisterstadt. Heute sind wenige Einwohner hier und langsam werden die Häuser renoviert. Der Ort birgt eine Kostbarkeit: In der Kirche Sv. Johannes und Paulus befindet sich die älteste Orgel Istriens.

Es gäbe aus den 100 Tagen in Istrien noch einiges zu erzählen, doch für heute schließe ich mit einem herzlichen Doviđenja.

In Istrien ist es am schönsten, wenn der Ginster blüht: Im Frühling werden die sandigen Hügel gelb, und es duftet betörend nach Honig und Liebe. Da öffnet sich auch das graue Gestein, das einst Meeres- oder Flußgrund gewesen war; aus ihm keimt in das Blau des Himmels das Geheimnis.

Aus Ostrigeca von Marjan Tomŝič

Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.

Ingeborg B. Hofbauer

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