Let's GO! Gorizia – Wiederentdeckung des österreichischen Nizza

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Würde Marcel Proust heute nach Gorizia reisen, könnte er die verlorene Zeit hier finden. Bei meinem Besuch in Gorizia, das österreichische Görz, machte ich eine neue Zeiterfahrung. Ich konnte mich dem Eindruck nicht entziehen, als gäbe es hier genug davon. Ein Grund, sich mit der Kulturhauptstadt 2025 zu beschäftigen.
Let's GO! Gorizia. Mit diesem Slogan präsentiert sich die Stadt auf ihrer offiziellen Webseite

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Das Eintrittstor nach Italien

Görz, von Max Klinger einst (1857–1920) als das „Eintrittstor von Österreich nach Italien“ bezeichnet, liegt zu Füßen der Julischen Voralpen in einer weiten Mulde des Karsts. Die Nähe zum Meer begünstigt das milde Klima und so mauserte sich die Stadt im 18. Jahrhundert zum beliebten Winteraufenthalt des kakanischen Adels und Bürgertums. Für Geschichtsinteressierte findet sich am Ende dieses Beitrags ein aktueller Buchtipp. Erwähnt sei hier die Namensgebung durch die Görzer Grafen, welche hier die Geschicke der Stadt bis 1500 lenkten. Die Geschichte der Stadt und der Region, die seit Jahrhunderten Schmelztiegel der Kulturen und in vielen politischen Auseinandersetzungen heiß umkämpft war, füllte bereits viele Bücher. Ich wende mich dem Heute zu.  Let's go oder andiamo a Gorizia! Frech fahre ich mit meinem Campervan ins Zentrum und finde zu meiner Überraschung genügend Parkplätze für 60 Cent pro Stunde vor.

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Italo Pop löst Wiener Kaffehausflair ab

Meinen Erkundungsgang starte ich beim Palazzo Attems. Palazzo und angrenzender Park wurden vom Architekten Nicolo Pacassi im Barock- und Rokokostil geplant. Einzelne Skulpturen und ein romantischer kleiner Pavillon zieren diese beschauliche Grünanlage, die ich in Richtung Via Garibaldi verlasse. An der Ecke komme ich zum Stadttheater mit dem Café Teatro.  Auf den abgewetzten lederbezogenen Sitzbänken und Sesseln saßen anno dazumal Hemingway, Vittorio de Sica, Milva, Eleonora Duse und andere Who’s Who jener Zeit. Wo der Adel zur Kur war, fand sich das Künstlertum ein. Aber bleiben wir in der Gegenwart. Bis auf die abgesessenen Sitzmöbel ist der Rest der Einrichtung modern gestylt und, unvermeidlich in Italien, beschallt von lauter Popmusik. Mangels Gehörschutz stürze ich meinen Caffe` hinunter und beobachte heimlich die sechs Carabinieri an der Theke. Erwähnenswert ist, dass die italienischen Carabinieri zu den bestangezogenen Exekutivbeamten der Welt gehören. Kein Geringerer als Giorgio Armani war beim Design der Uniformen mitbeteiligt.

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Eine Gasse wartet auf den Erweckungskuss

Ich passe mich dem gebremsten Tempo der Stadt an und schlendere weiter, wobei mir die vielen geschlossenen Läden auffallen. Viele davon stehen zum Verkauf oder sind zu vermieten. Dazu gehören auch jene der einstmals eleganten Einkaufsstraße Via Rastello. Besonders an ihr zeigt sich dramatisch der Niedergang der Handwerks- und Kaufläden. Eine typische Tabaccheria, einige Antiquitätenläden, Billigshops und zwei Geschäfte für Sozialprojekte dämmeren in der Via Rastello halb schlafen vor sich hin.

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Auf einigen verwitterten Ladenschildern ist die österreichische Präsenz deutlich zu erkennen vor allem das Portal von Krainer & Comp. ist außergewöhnlich schön. Meine Nase an die Glaswand gepresst, sehe ich im Inneren eine wunderschöne antike Einrichtung eines Kaufladens aus Holz mit einem separaten Kassenhäuschen. Ich verstehe nicht, warum man dieses Schmuckstück Besuchern vorenthält. Es scheint, als wäre Gorizia nicht sonderlich an touristischer Eroberung interessiert. Diesen Eindruck gibt auch Josef Wallner in seinem Buch "Hinter Triest ein Zauberland" sinngemäß wieder. Schmunzelnd beobachte ich, dass sogar die Radfahrer recht gemächlich in die Pedale treten. Die Stadt wird mir immer sympatischer.

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Am Ende der Via Rastello, beim Aufgang zur Burg, steht die Statue des Philosophen, Dichters, Zeichners und Malers Carlo Michelstaedter (1887-1910).  Seine Diplomarbeit mit dem Titel „La persuasione e la rettorica“ (Überzeugung und Rhetorik), gilt bis heute als ein Schlüsselwerk des Gedankens des 20. Jahrhunderts. Carlo nahm sich am 17. Oktober 1910 das Leben. Mit der Statue, zu der zahlreiche Bewunderer dieser herausragenden Persönlichkeit pilgern, erweist die Stadt Görz einem ihrer größten Söhne die Ehre. Auf dem Weg hinauf zum vollständig eingerüsteten Castello, entdecke ich die Statue von Gabriele D'Annunzio. Der Dichter und Nationalist war Treiber für den Kriegseintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg. Den Sinn dieser Statue kann ich nicht wirklich nachvollziehen bei dem Gedanken, welchen menschichen Blutzoll die Italiener in den 12 Isonzoschlachten zahlen mussten.

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Die Landung des Doppeladlers

Nicht eingerüstet ist die Porta Leopoldina, durch die ich die Burganlage betrete. Dem Habsburger Leopold II., einstmals Großherzog von Österreich-Toskana und für seine humane Regentschaft bekannt, waren in Görz nur zwei Jahre der Regentschaft gewährt, bevor er starb. Sein Kenotaph ist in der Seitenkapelle des Doms zu besichtigen. Ruhig und menschenleer ist es im Borgo Castello. Der berühmte slowenische Architekt und ehemalige Otto Wagner Schüler, Max Fabiani plante den Wiederaufbau des Borgo, nachdem die alten Hütten zum Großteil abgebrannt und abgerissen wurden. Die  bauliche Handschrift dieses herausragenden Architekten sind auch in der Stadt zu finden.

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Durch die Via Rastello komme ich in das Herzstück der Stadt. Die Piazza della Vittoria ist ein großzügig gestalteter Platz, dominiert von der Chiesa di S. Ignazio mit den beiden Türmen, dem Palazzo Paternolli und dem Neptunbrunnen.  In dieser barocken zweitürmigen Kirche finden sich wunderbare Marmordekorationen, ein beeindruckender Altar, Holzschnitzereien und Intarsien aus dem 17. Jhd. Der Neptunbrunnen wurde 1756 vom Bildhauer Marco Chiereghin errichtet. Die Zeichnungen dazu stammen von Nicolò Pacassi.

Nachdem Reiseschriftsteller im 18. Jhd. in den höchsten Tönen über Görz als das österreichische Nizza schrieben, fanden sich zunehmend Adelige und vermögende Bürger ein und bauten sich ihre Palazzi und Villen. Dem Winter im Norden entfloh man nicht nur nach Abbazia, sondern auch in das milde Klima der Görzer Küstenregion.

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Heute werden viele der schönen Palazzi für öffentliche Einrichtungen genutzt oder stehen leer und der Zahn der Zeit nagt deutlich an ihnen. Es hat schon einen gewissenen Reiz diese verlorenene Zeit, begleitet vom langsamen Zerfall der Zeugen einer Epoche. Vielleicht finden sich Menschen, die diesen Verfall aufhalten? Im Gedanken versunken weitergehend, stehe ich plötzlich vor der Universität und betrete den angrenzenden Park, wo ich auf eine etwas groteske Nachbildung der Grotte von Lourdes stoße. Die Bezeichnung der Universität lautet richtig: Universita degli Studi`di Trieste Sede  di Gorizia.  

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Loslassen und Heilung

Auf der Piazza Vittorio werde ich im Café Vittorio erneut mit lautem Italo Pop empfangen. Ohne diese Beschallung wäre das Café recht ansprechend, jedoch diese Musik beleidigt meine Ohren und lässt keinen Kaffeehausflair aufkommen. Tapfer bestelle ich un caffè e due canolli bei der freundlichen asiatischen cameriera. Multikulturell war diese Stadt schon immer. Was mich zunehmend beschäftigt ist diese Nichtsensibilität gegenüber dem biedermeierlichen k&k Flair, den man überall sonst in diesen ehemals habsburgischen Kurorten so gerne aufrechterhält bzw. wiederbelebt. Oder erlebe ich hier gerade einen Gegenentwurf zu einer, mit nichts vergleichbaren grausigen Vergangenheit? Zur Erinnerung: 12 Isonzo Schlachten im Ersten Weltkrieg, unterschiedliche Machthaber und Kriege über Jahrhunderte, die Spaltung der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Wohl jede Familie ist hier auf irgendeine Art und Weise davon betroffen. Der Verdacht drängt sich mir auf, als habe sich hier eine kollektive Resilienz wie ein Schutzschirm über der Stadt aufgespannt. Ich spüre hier weder Schwere noch belastende Energie.

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Kulturhauptstadt: Let's GO!

Es werden Themen aufgegriffen, die das 20. Jahrhundert interpretieren sollen. Ein weiteres Projekt ist „come home“. Künstler aus der ganzen Welt wurden eingeladen, in ihrer Geburtsstadt zu wirken.  In einem Steinbruch am Fuße des „Heiligen Berges“ soll der Körper der Zukunft gezeigt werden, welche die künstliche Intelligenz mit all ihren offenen Fragen miteinbezieht. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Wiederbelebung des Freundschaftsspazierganges. In Zeiten des Eisernen Vorhanges wurde einmal im Jahr für diesen Marsch die Grenze geöffnet. Die Staatsgrenze der beiden Länder Italien und Slowenien verläuft heute mitten durch die Piazza Transalpina, vor dem Bahnhofsgebäude der ehemaligen Südbahngesellschaft. Hier kann man mit einem Fuß auf der slowenischen und mit dem anderen auf der italienischen Seite stehen. Ein beliebtes Instagram-Motiv. Leider war das Areal des Bahnhofes bei meinem Besuch wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.

Die Kulturhauptstadt Gorizia/Nova Gorica will sich entgültig vom Geruch des Blutes und dem Pulverstaub der Kanonen in der Vergangenheit befreien. Aktueller könnten die Themen nicht sein und es wird interessant zu entdecken, wie weit es gelingen wird.

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Mercato corperto und gebrauchte Bücher

Nach diesem Exkurs in das Kulturjahr 2025 spaziere ich vorbei am Palazzo delle Torre (darin befindet sich die Fondazione Cassa di Risparmio di Gorizia), zum Mercato Coperto am Corso Giuseppe Verdi.  Im Caffe‘ Excelsior neben dem Eingang gönne ich mir ein Glas Refosco, dem typischen Wein aus dem Collio. Auf mich wartet noch der Höhepunkt des Tages. Die Piazza San Antonio. Auf dem Weg dahin stolpere ich noch über die Buchhandlung Libri usati in der Via delle Monache 3. Ein Besuch in dieser Buchhandlung für gebrauchte Bücher ist das Paradies für echte Bücherwürmer. Sobald man die Schwelle überschritten hat, türmen sich vor einem die Bücherberge auf. Das Suchprinzip heißt hier Zeit. Wo, wenn nicht in Gorizia kann sich so ein Buchladen behaupten. Ein Schwätzchen mit der Inhaberin Daniela Modula, bevor es weitergeht.

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Hier wird es mondän

Angelangt auf der Piazza San Antonio werde ich wiederum mit der baulichen Großzügigkeit vergangener Zeiten überrascht. Auf der einen Seite steht der Palazzo Strassoldo, heute ein 4-Sterne-Hotel. Ich betrete das Hotel und sehe mich ein wenig um. Das nächste Mal logiere ich hier, verspreche ich mir innerlich. Im Garten dahinter verbirgt sich ein kleines Kloster. Auf der anderen Seite, gegenüber dem Hotel, zieren Arkaden den Palazzo Lantieri. Früher Schloss Schönhaus genannt und aus dem 14. Jhd., soll er im Inneren reich an Fresken sein.

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Ein sakrales Schmuckstück

Unweit von der Piazza, komme ich zum Dom von Görz. Hinter der einfachen Fassade, die 1924 nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs wiederaufgebaut wurde, verbirgt sich ein sehr altes Kultgebäude, in dem wertvolle Kunstwerke und Zeugnisse aus dem Görzer Mittelalter erhalten sind. Das linke Seitenschiff mündet dagegen in die Kapelle des Allerheiligsten, die auf das 14. Jhd. zurückgeht und in der man das Kenotaph von Leonardo, dem letzten Grafen von Görz, sowie weitere Grabplatten aus dem 16. Jhd. sehen kann. Sehr berührend ist der Altar mit den Marmorfiguren.

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Für kulinarisch Interessierte und Shoppingqueens

Fündig wird man am Corso Italia und am Corso Verdi. Hier ist abends einiges los und es gibt Geschäfte, Bars und Restaurants. Das Restaurant Ai Tre Soldi sei hier erwähnt. Beim Flanieren fällt mir auch hier auf, dass es beschaulich zugeht, man kennt einander, bleibt stehen, hält ein Schwätzchen. Jeder hat Zeit, nur keine Hast. Und überrascht stelle ich plötzlich fest, dass dies meine erste Städtereise ist, wo ich am Abend nicht komplett erledigt bin.

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Getrenntes findet zusammen

Auf der Rückfahrt lege ich noch einen Halt ein, um ein grandioses Naturschauspiel zu fotografieren. Die alte Eisenbahnbrücke spiegelt sich in der Nachmittagssonne so perfekt im Wasser, dass sie sich zu einem vollkommenen Bild zusammenfügt. Wie ein Symbol für das Zusammenfügen von Getrenntem sehe ich dieses Spektakel als Zeichen für Gorizia, Nova Gorizia und den Rest der Welt. Let's GO! Gorizia.

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Weitere Geschichten von meinen Soloreisen in Italien in meinem neuen Buch Italia da sola - 100 Tage, 100 Orte, 100 Glücksmomente. In jeder Buchhandlung Italia da sola und weitere Bücher der Autorin

Gorizia Kulturhauptstadt 2025 Offizielle Eröffnung am 8. Februar.

Weltausstellung Steve McCurry in Trieste im Rahmen der Kulturhauptstadt GO!Gorizia

Link zur Webseite Kulturhauptstadt

Kulturhauptstadt Let`s GO! Gorizia

Buchtipp: Hinter Triest ein Zauberland von Josef Waller Verlag Berger * Horn ISBN: 978-3-99137-039-0

Ausflug ins nahe gelegene Collio Das in fünfter Generation geführte Weingut Primosic:https://www.primosic.com

 

 

 

 

Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.

Ingeborg B. Hofbauer

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